Bild – Materie – Wandel

Die Ockerfelder von Renate Rüd

 

 

Seit dem Jahr 2005 arbeitet Renate Rüd konsequent mit dem natürlich vorkommenden Pigment Eisenhydroxid aus dem Trinkwasserbrunnen ihrer Heimatgemeinde. Es bildet die Grundsubstanz ihrer charakteristischen Ockerfelder, die in immer neuen Variationen entstehen.

Rüd kostet die stofflichen Qualitäten des Eisenockers in ihrer ganzen Vielfalt aus. Dank der Unregelmäßigkeiten, die das Naturmaterial mit sich bringt, ergeben sich lebhafte Effekte. Je nach Lichteinfall wirken die Ockerfelder opak oder auch seidig schimmernd. Raue, schrundige Farbschichten wechseln mit glatteren Partien und bieten der Augenlust viel Angriffsfläche. Das Eisenpigment kann im Farbton golden funkeln oder von feurigem Orange bis zu erdigem Braun changieren.   

Im Schaffensprozess gehen Zufall und Kalkül Hand in Hand: das Kunstwerk ist Teil eines umfassenden Konzepts, das dem Werden und Vergehen Raum lässt. Schwundrisse, wie sie beim Trocknen der massigen Malschicht entstehen, werden als glückliche Fügung akzeptiert, ja bewusst als ästhetischer Tatbestand genutzt. Man sieht den Bildobjekten an, dass sie "gewachsen" sind. Unregelmäßigkeiten und Einsprengsel in der Farbmaterie erscheinen nicht als Zeichen technischer Nachlässigkeit, sondern als Zeugen naturnaher Vorgänge.

Renate Rüd geht es darum, dass das Ausgangsprodukt ihrer Kunst aus dem Boden vor Ort gewonnen wird und mit dem Wasser zu tun hat, das für sie ein belebendes Element darstellt. Damit verbindet sich ein geologisches, wenn nicht gar ökologisches Bewusstsein und es ist stimmig, dass das Ergebnis ihrer Kunstschöpfung auch an Wüstengegenden, Gesteinsformationen oder vernarbte Kraterlandschaften denken lässt.

Die Ockerfelder besitzen einen ausgeprägt haptischen Charakter. Man meint die Höhen und Tiefen, die feineren oder gröberen Körnungen und Löcher, regelrecht mit den Augen abtasten zu können. Eine reliefartige Oberflächenstruktur, die nicht vor den Bildrändern Halt macht, verleiht den Gemälden Volumen und Monumentalität: Das Bild als wandbezogenes Objekt, das auch skulpturale Wirkung im Raum entwickelt.

Zugleich ist Rüds Kunst nicht nur eine des Materials und der Struktur. Indem die Künstlerin die Bildträger oder oft auch die minimalistische Komposition auf einfache geometrische Grundformen wie Quadrat und Kreis reduziert, reflektiert sie tradierte Vorstellungen von der Abstraktion als hoher Kunst der Reinheit, Klarheit, Einfachheit. Darüber hinaus gewinnt sie dem profanen, gemeinhin als Rost bekannten Farbstoff eine weiter reichende Qualität ab. Einerseits begreift Rüd das Bild als plastischen Gegenstand, von dem taktile Reize ausgehen; andererseits als pulsierendes Ereignis, das den Blick in die Tiefe ziehen kann.

In einem meditativen Kontext offenbart sich ihr Bild nicht als starre Ebene, als Fläche, sondern als belebtes Kontinuum. Subtil zwischen Materialität und Immaterialität vermitteInd, vermag die Künstlerin die physische Realität des Eisenhydroxids zu transzendieren. Eine Steigerung erfährt dieses Verfahren, wenn Rüd das mattgoldene Glühen in ihren Bildern mit Graphit kontrastiert, der bisweilen silbrig spiegelnd wahrgenommen wird. Im Streiflicht und im Wechsel der Betrachterstandpunkte ergibt sich dann umso mehr ein Spiel der Materialien und Oberflächen.

Rüd hat das Naturpigment Eisenhydroxid mit seiner immanenten Tendenz zum Irdischen als ausdrucksstarke Symbolfarbe entdeckt. Körperlichkeit und Entstofflichung sind bei ihr keine sich gegenseitig ausschließenden Kategorien. Im Spannungsfeld zwischen einer sinnlich erfahrbaren materiellen Präsenz und einer optischen Entgrenzung des Farbfeldes liegt das faszinierende Moment ihrer Ockerfelder.

Im übertragenen Sinn entfalten solche Dichotomien existenzielle, wenn man so will metaphysische Bedeutung. Rüds Rost-Bilder mögen an die grundsätzliche Verletzlichkeit allen Seins erinnern, aber auch an die Tatsache, dass alles Leben in seiner Vergänglichkeit einer höheren Ordnung unterliegt. Innerhalb dieser bleibt die schiere Materie in einen Kreislauf steter Umwandlung eingebunden.

 
Harald Tesan